A B C D E F G H I K L N P R S T Ü V W Z

Akutes Nierenversagen

Beim akuten Nierenversagen (ANV), auch Harnvergiftung, akute Niereninsuffizienz oder akute Nierenschädigung (englisch acute kidney injury), handelt es sich um eine plötzliche, innerhalb von Stunden bis Tagen einsetzende, prinzipiell rückbildungsfähige Verschlechterung der filtrativen Nierenfunktion. Es kann nach vorheriger normaler Nierenfunktion oder nach bereits chronisch eingeschränkter Nierenfunktion (ANV auf dem Boden einer chronischen Niereninsuffizienz, engl. acute on chronic renal failure) auftreten. Ein Maß für die Schwere des Nierenversagens ist die glomeruläre Filtrationsrate (abgekürzt GFR).

Krankheitsbild

Es handelt sich bei der Niereninsuffizienz um eine „mangelhafte Tätigkeit der Nieren infolge Ausfalls oder Zerstörung der Glomeruli oder Tubuli“ unabhängig von der Existenz eines renalen Grundleidens. Fast immer sind die Nieren beim Nierenversagen also gesund (Niereninsuffizienz ohne Nierenkrankheit). Davon ist das Gegenteil Nierenkrankheit ohne Niereninsuffizienz abzugrenzen. Die englischen Fachbegriffe kidney injury, kidney failure, renal impairment, renal insufficiency, renal illness, kidney disease, kidney illness, kidney disorder, kidney malfunction oder renal damage sind also im Zweifel mit Niereninsuffizienz, Nierenversagen, Nierenschwäche, Nierenunterfunktion, Nierenstörung und nicht mit Nierenkrankheit, Nierenleiden, Nierenschaden, Nierenschädigung, Nephropathie, Nierenverletzung zu übersetzen

Die Ursachen werden entsprechend dem Ort der Schädigung in prärenal, renal und postrenal eingeteilt. Die Schädigungsursache vor der Niere (prärenal) ist in erster Linie ein vermindertes Blutvolumen (Hypovolämie, z. B. bei Blutungen, Flüssigkeitsmangel oder Herzinsuffizienz) oder ein zu niedriger Blutdruck (kardiorenales Syndrom, Schock, hepatorenales Syndrom). Ein Maß für diese prärenalen Schädigungen ist das Herzzeitvolumen. Akute renale Schädigungen, d. h. in der Niere selbst (intrarenal) auftretende beidseitige Nierenkrankheiten, können vielfältig sein; sie sind selten. Hierzu gehören u. a. akute Glomerulonephritiden und tubulointerstitielle Nierenerkrankungen, aber auch Arzneimittelnebenwirkungen (Röntgenkontrastmittel). Postrenal liegt der Auslöser hinter den Nieren im ableitenden Harntrakt. Auch diese Ursachen sind selten; als häufiges Beispiel sei der Harnverhalt mit Rückstau des Urins in die Nieren bei der gutartigen Vergrößerung der Prostata genannt.

Folgen sind Regulationsprobleme des Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts sowie ein Verbleiben von Endprodukten des Eiweißstoffwechsels (u. a. Harnstoff) und anderen harnpflichtigen Substanzen (u. a. Kreatinin) im Organismus. Nachfolgend kann es ausgehend von der Azotämie zu einem lebensbedrohlichen Vergiftungszustand, der Urämie bis hin zum Coma uraemicum, kommen.

In Abhängigkeit von der Ursache kann eine intensivmedizinische Behandlung mit frühzeitiger vorübergehender Dialyse notwendig sein. Auch wenn die Prognose für die Wiederherstellung der Nierenfunktion ad integrum gut ist, kann das akute Nierenversagen durch Sekundärerkrankungen (z. B. Pneumonie, Sepsis, Herzinfarkt, Polytrauma) in ein häufig tödliches Multiorganversagen münden. Das Risiko des Übergangs in eine chronische dialysepflichtige Niereninsuffizienz hängt von der Ursache ab.

Wenn in der Medizin vom Nierenversagen die Rede ist, wird immer vom beiderseitigen Nierenversagen ausgegangen. Ein einseitiges Nierenversagen bei gesunder zweiter Niere wird im Folgenden nicht thematisiert. Ein einseitiges extrarenales Nierenversagen ist denkunmöglich. Und bei einem einseitigen intrarenalen Nierenversagen wird eine klinisch relevante Niereninsuffizienz von der zweiten gesunden Niere immer zuverlässig verhindert (Ausnahme: erkrankte Einzelniere). Auch deswegen ist die Unterscheidung zwischen Niereninsuffizienz und Nierenkrankheit sehr wichtig. In Zweifelsfällen kann die GFR seitengetrennt bestimmt werden; dann ist die GFR des Patienten die Summe (und nicht etwa der Mittelwert) der GFR seiner beiden Einzelnieren.

Bei Frühgeborenen und Neugeborenen ist die Niereninsuffizienz physiologisch. Bei einem Gewicht von 1 kg beträgt die GFR 0,2 ml/min und bei einem Gewicht von 2 kg nur 0,5 ml/min. Reifgeborene haben eine GFR = 1,5 ml/min.

Definition und Stadieneinteilung

Klassifikation nach ICD-10
N17 Akutes Nierenversagen
N17.0 Akutes Nierenversagen mit Tubulusnekrose
N17.1 Akutes Nierenversagen mit akuter Rindennekrose
N17.2 Akutes Nierenversagen mit Marknekrose
N17.8 Sonstiges akutes Nierenversagen
N17.9 Akutes Nierenversagen, nicht näher bezeichnet
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Das Spektrum des akuten Nierenversagens reicht von einer minimalen Erhöhung des Serum-Kreatinins bis zum vollständigen Verlust der Nierenfunktion.

2004 wurden in einer internationalen Konsensuskonferenz die bis dahin bestehenden 30 unterschiedlichen Definitionen des akuten Nierenversagens durch eine einheitliche Definition und Stadieneinteilung ersetzt, die RIFLE-Kriterien. RIFLE ist ein Akronym und steht für Risk – Injury – Failure – Loss – ESRD (End Stage Renal Disease), übersetzt etwa: Risiko – Schädigung – Versagen (der Nieren) – Verlust (der Nierenfunktion) – Terminales Nierenversagen.

Um dem breiten Spektrum des Krankheitsbildes gerecht zu werden, wurde 2007 der Begriff ‚akutes Nierenversagen‘ (Acute Renal Failure, abgekürzt ARF) in einer weiteren Konsensuskonferenz durch den Begriff ‚akute Nierenschädigung‘ (Acute Kidney Injury, abgekürzt AKI) ersetzt, obwohl meistens gar keine tatsächliche Nierenkrankheit vorliegt. Definition und Stadieneinteilung wurden gestrafft.

Schwächen der neuen Definition und Stadieneinteilung sind:

Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Stadien und klinisch relevanten Endpunkten wie Mortalität oder Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie ist statistisch bislang noch unzureichend abgesichert, die Stadieneinteilung geht nicht auf die Ursachen der akuten Nierenfunktionsverschlechterung ein
und unterscheidet insbesondere nicht zwischen Nierenfunktionsverschlechterung aufgrund einer verminderten Durchblutung, einer Harnabflussstörung oder einer Schädigung des Nierengewebes.