Impfen ist der beste Schutz

Kommt es in diesem Jahr zu einer gefürchteten Twindemie – also zu einem gleichzeitigen Auftreten einer Influenza- und einer COVID-19-Welle? Das haben wir teilweise in der Hand, denn der beste Schutz sind hohe Impfquoten. Auf jeden Fall gilt: Es sind noch Impfstoffe da. Allerdings können sie im Kühlschrank von Arztpraxen und Apotheken ihre Wirkung nicht entfalten. Ein Gespräch mit Dr. Alexander Heiseke, Senior Medical Adviser beim forschenden Pharmaunternehmen und Impfstoffspezialisten GlaxoSmithKline.

Für dieses Jahr erwarten einige Expert/innen eine schwere Grippe-Saison. Was meinen Sie?

Dr. Alexander Heiseke: Der Blick in die Kristallkugel ist immer mit einigen Unsicherheiten behaftet, aber wenn wir uns die Situation in Australien anschauen, wo in diesem Jahr eine starke und ungewöhnlich frühe Grippe-Saison stattgefunden hat, dann könnte man daraus ableiten, dass es auch bei uns zu einer solchen Welle kommen kann (s. Pharma Fakten). So hat zum Beispiel die Arbeitsgruppe Influenza am Robert Koch-Institut kürzlich in Kalender Woche 44 bereits die Influenza-Saison 2022/2023 für gestartet erklärt. Dies ist ein außergewöhnlich früher Beginn. Das ist nur ein Indiz dafür, dass wir dieses Jahr mit einer ähnlich schweren Influenza-Saison rechnen müssen.

Das ist auch abhängig von der Impfquote, oder?

Heiseke: Ja. Sollte es uns gelingen, dass sich dieses Jahr viele Menschen gegen Influenza impfen lassen, kann das einer starken Saison entgegenwirken.

Welchen Einfluss hat die COVID-19-Pandemie auf das Auftreten dieser Erreger?

Heiseke: Die Erreger, und das gilt nicht nur für Influenza, sondern auch für Pertussis (Keuchhusten), das RS-Virus oder die Pneumokokken, sind durch Lockdowns und das Maske tragen gewissenermaßen unterdrückt worden. Dadurch kann es zu einem Rebound-Effekt kommen, also zu einer stärkeren Wirkung der Erreger. Das wird dadurch, dass wir weniger Masken tragen und weniger Abstand halten, zusätzlich erleichtert.

Ist eine schwere Grippe-Saison, wie wir sie in Australien gesehen haben, eine Art Kollateralschaden der Pandemie?

Heiseke: In gewisser Weise ja, denn die Krankheitserreger treffen auf ein Immunsystem, das weniger trainiert ist.

Zurück zur Influenza: Wo stehen wir hier mit den Impfquoten?

Heiseke: Wir erreichen in der Gruppe der 60-Jährigen und Älteren eine Impfquote von rund 47 Prozent. Damit hinken wir dem Impfziel, das die Weltgesundheitsorganisation generell mit 75 Prozent vorgegeben hat, deutlich hinterher. Schauen wir uns das Impfverhalten der Erwachsenen an, dann sind wir in der Altersgruppe 18 bis 59 Jahre nur noch bei 39 Prozent. Die Ständige Impfkommission empfiehlt die Impfung auch in der Schwangerschaft, aber hier sind wir sogar nur bei 20 Prozent.

Das ist ein gewaltiger Unterschied zwischen Impfziel und tatsächlichem Impfschutz…

Heiseke: Der einzige Bereich, in dem wir die Impfziele erreichen, ist bei den Ärztinnen und Ärzten in den Kliniken. Hier erreichen wir 79 Prozent. Beim Pflegepersonal sind es aber auch nur noch rund 47 Prozent.

Gibt es regionale Unterschiede?

Heiseke: In der Regel sehen wir in den neuen Bundesländern höhere Influenza-Impfraten als in den alten. Das ist interessanterweise bei den Corona-Impfstoffen anders. Außerdem haben wir ein Nord-Süd-Gefälle: In Bayern und Baden-Württemberg gehen weniger Menschen zur Grippeimpfung als im Norden.

Ob wir eine so genannte Twindemie bekommen, definiert als das gleichzeitige Auftreten einer Influenza- und einer neuen COVID-19-Welle, ist zurzeit noch Spekulation?

Heiseke: Das ist richtig. Aber der beste Schutz dagegen ist ein hoher Impfschutz. Übrigens nicht nur gegen Influenza und COVID-19, sondern auch gegen Pneumokokken und Pertussis. Dabei geht es um den individuellen Impfschutz und den Schutz vor Mehrfachinfektionen. Aber es geht auch um den systemischen Schutz.

Was meinen Sie damit?

Heiseke: Damit meine ich die Belastungen, die auf das System zukommen können: Viele Krankenhauseinweisungen, Krankschreibungen bei ärztlichem und pflegerischem Personal, überlastete Praxen – all das kann ich mit hohen Impfquoten eindämmen. Eine Grippe ist keine banale Erkältung. Sie kann bei schweren Verläufen dazu führen, dass Menschen ins Krankenhaus müssen. Sie kann auch zu lebensgefährlichen Komplikationen führen.

Was ist der Grund für die bescheidenen Impfquoten?

Heiseke: Ein Faktor ist sicher, dass die Influenza nicht als schwerwiegende Erkrankung wahrgenommen wird. Außerdem denken viele, dass die Impfstoffe nicht ausreichend wirksam sind. Hier brauchen wir mehr Aufklärungsarbeit.

Ist es zu kompliziert, in Deutschland zu einer Schutzimpfung zu kommen?

Heiseke: Wir wissen, dass ein so genanntes niederschwelliges Angebot dabei hilft, Impfquoten zu erhöhen. Deshalb ist es ein richtiger Schritt, dass nun auch Apotheken gegen Grippe impfen können. Angesichts der bestehenden Impfquoten sollte jede Möglichkeit genutzt werden, um diese zu verbessern.

Wer sollte sich gegen Influenza impfen lassen?

Heiseke: Da ist die Ständige Impfkommission sehr deutlich. Alle Menschen ab 60 Jahren sollten sich jährlich gegen Influenza impfen lassen. Hinzu kommt die Impfung in der Schwangerschaft. Ab einem Alter von 6 Monaten empfiehlt die STIKO die Impfung außerdem für alle Menschen mit Grunderkrankungen, weil für sie eine Infektion ein zusätzliches Risiko darstellen kann. Außerdem gibt es Impfempfehlungen für ärztliches oder pflegerisches Personal oder für diejenigen, die mit anderen gefährdeten Menschen zusammenleben.

Weitere Informationen
www.impfakademie.de