ADHS: Versorgung für Erwachsene muss optimiert werden

Die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, verorten viele bei Kindern. Nur wenige denken dabei auch an betroffene Erwachsene! Die Symptome persistieren zumindest teilweise bei 50-80 % [1] der als Kinder Betroffenen bis ins Erwachsenenalter fort, mit häufig weitreichenden Folgen. Ihre Versorgung muss dringend verbessert werden – darüber waren sich führende Expert/innen bei einem Fachgespräch einig. Während des Fachgesprächs wurden auch Ansätze für die Verbesserung der Versorgung diskutiert. Unterstützt wurde der Diskurs von Takeda, einem im Bereich ADHS engagierten Unternehmen.

Der Leidensdruck von Betroffenen mit adulter ADHS ist hoch: „Patient/innen bleiben hinter ihren kognitiven Möglichkeiten“, so skizzierte eine/r der Teilnehmenden die Situation aus psychiatrischer Sicht. „Die Symptomatik hat Auswirkungen auf fast alle Lebensbereiche“. Teilweise ist die Erkrankung mit einem erheblichen Stigma für die Betroffenen verbunden. Gleichzeitig wird über die positiven Merkmale von vielen ADHS-Patient/innen, wie die besondere Sensibilität und Kreativität kaum gesprochen. Stattdessen dominiert ein gesellschaftliches Stigma. Die Teilnehmenden des Fachgesprächs – 16 Expert/innen aus Psychiatrie, Psychologie und z.T. selbst betroffene Patientenvertreter/innen sowie die Patientenorganisation ADHS Deutschland e.V., folgten dem Aufruf zum Diskurs eines 2019 publizierten Positionspapiers, verfasst von ADHS Deutschland gemeinsam mit fachärztlichen Expert/innen der Universitätskliniken Bonn, Frankfurt, München und Bochum.

Aktive Teilnehmende der Diskussion war auch Dr. Kirsten Kappert-Gonther, MdB, Sprecherin für Gesundheitsförderung der Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen und selbst Psychiaterin.

Ziel des Diskurses war es, Kernprobleme und Versorgungslücken zu definieren und konkrete Lösungsansätze abzuleiten. Schnell wurde klar: Lücken in der Versorgung sind evident – zahlreiche Studien und die Erfahrung aus der Praxis weisen deutlich darauf hin. Die Frage war also zunächst, durch welche Formen der Unter- oder Fehlversorgung die Patient/innen besonders belastet sind. In einer Umfrage unter den Diskussionsteilnehmenden wurden drei wesentliche Problembereiche identifiziert:

Langer Weg zur richtigen Diagnose
Es gibt in Deutschland nicht genügend Fachärzt/innen und Psychotherapeut/innen mit speziellen Kenntnissen der ADHS bei Erwachsenen. Patient/innen müssen daher oft sehr lange auf einen Termin zur Diagnostik warten. Dass diese spezialisierte Diagnostik nicht bedarfsgerecht angeboten wird, kann nach Ansicht der Expert/innen unter anderem auch auf die nicht ausreichende Vergütung der hierfür erforderlichen Zeit von niedergelassenen Psychiater/innen zurückzuführen sein. Außerdem leiden ADHS-Patient/innen häufig an weiteren, sogenannten komorbiden psychischen Erkrankungen, wie Depressionen, Suchterkrankungen oder Angststörungen. Wenn diese komorbiden Erkrankungen bei Patient/innen bereits diagnostiziert wurden, kann es durch den „Diagnostic Overshadowing-Effekt“ dazu kommen, dass die ADHS nicht mehr erkannt wird, sondern viel mehr „im Schatten“ anderer psychischer Erkrankungen steht und übersehen wird.

Dies hat nicht nur immense Folgen für Betroffene. Auch für das Gesundheitssystem geht die fehlende oder verspätete Diagnose mit immensen Kosten einher. Durch die Nichtlinderung des Leidensdrucks kommt es beispielsweise häufig zum Ärzt/innen-Hopping, der Einleitung nicht notwendiger Behandlungen sowie vermeidbaren Krankenhausaufenthalten.

Zu wenige kompetente Behandler/innen

Aber selbst wenn bei dem Patienten oder der Patientin die Diagnose ADHS gestellt wurde, ist der Leidensweg oft keineswegs vorbei. Denn dann steht er oder sie vor der Herausforderung, einen kompetenten Behandelnden zu finden. Der Mangel an ADHS-Spezialist/innen liegt zum einen daran, dass ADHS und v.a. ADHS im Erwachsenenalter in Aus- und Weiterbildung noch nicht richtig angekommen ist und auch deshalb hier ein Bewusstsein fehlt. Zum anderen werden Menschen mit ADHS auch von Fachleuten stigmatisiert. Viele Menschen verbinden mit ADHS-Patient/innen „anstrengende“ Personen – eine Einschätzung, die naturgemäß von den Teilnehmenden des Fachgesprächs nicht geteilt wird. Zudem ist eine ADHS heute vergleichsweise effektiv therapierbar und bietet für die Betroffenen eine schnelle und merkbare Entlastung. „Es ist so wichtig, dass es Menschen gibt, die wissen, wie wir ticken“, war eine Äußerung in einem dem Fachgespräch vorangegangenen Fokusgruppengespräch mit Betroffenen.

Mangelndes Verständnis für Betroffene
Die Ursache vieler Versorgungsprobleme liegt auch in einem mangelnden Wissen über die Besonderheiten der Betroffenen sowohl in Fachkreisen als auch in der Gesellschaft. Betroffene fühlen sich dadurch häufig nicht verstanden, abgelehnt und entwickeln die Auffassung, etwas sei mit ihnen „nicht in Ordnung“ oder sie hätten eine andere Erkrankung. Wichtig ist daher, das Bewusstsein für ADHS im Erwachsenenalter insgesamt in der Gesellschaft zu stärken. Denn immer noch sind viele auch heute noch der Auffassung, ADHS betreffe nur Kinder und „verwachse“ sich im Laufe der Jahre. Hinzu kommen die Stimmen der ADHS-Leugner/innen, die die Existenz der Erkrankung abstreiten.

Einig waren sich die Teilnehmenden des Fachgesprächs, dass ein fehlendes Bewusstsein die Benachteiligung der Betroffenen weiter verstärkt.

Mittel- und langfristige Lösungen
Um diese Versorgungslücken schließen zu können, schlugen die Diskussionsteilnehmenden verschiedene Lösungen vor, die mittel- bzw. langfristig zur Verbesserung der Situation beitragen sollen.

Förderung der Ausbildung
Als wichtigsten Hebel zur Verbesserung der Versorgungssituation sehen die Expert/innen gut ausgebildete Spezialist/innen, die diagnostizieren und behandeln können. Viele Patient/innen mit nicht diagnostizierter ADHS sind schon jahrelang aufgrund anderer Erkrankungen vorbehandelt. ADHS wird dabei allzu oft übersehen. Hier kann Aufklärung entgegenwirken. Das Thema adulte ADHS sollte bei Fortbildungen von Fach- sowie Hausärzt/innen und Psychotherapeut/innen künftig verstärkt berücksichtigt werden. Es sollte aber auch bereits in der universitären Ausbildung und später in der Weiterbildung einen angemessenen Raum einnehmen.

Vernetzung
Die Versorgung von Erwachsenen mit ADHS ist interdisziplinär und interprofessionell.

Daher ist u. a. eine stärkere Vernetzung von Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapeut/innen, Pädiater/innen, Hausärzt/innen und anderen an der Versorgung beteiligten Akteuren unerlässlich.

Aufklärung
Ein weiterer wichtiger Maßnahmenkomplex betrifft die sachgerechte Aufklärung über die Erkrankung in der Gesellschaft allgemein, in Fachkreisen und letztlich auch in der Politik. Auch ist es sinnvoll, Schulen – einschließlich der Berufsschulen – noch stärker einzubinden. Hier könnten gezielte Fortbildungen zum Thema helfen. Bereits bestehende Programme sollten entsprechend weiter ausgeweitet werden. Dies kann auch dazu beitragen, Vorurteile gegenüber Betroffenen abzubauen.

Vergütung
Zudem kann es erforderlich sein, die ausführliche Anamnese und Diagnostik für Ärzt/innen angemessen zu vergüten. Denn diese ist zeitlich aufwendig und wird aktuell aus Sicht der Ärzt/innen nicht diesem Aufwand entsprechend honoriert.

Digitalisierung
Schließlich sollte die – nicht zuletzt auch durch die Corona-Pandemie – voranschreitende Digitalisierung im Gesundheitswesen als Chance genutzt werden. Niederschwellige Informationsplattformen, Selbsthilfegruppen, Coachings sowie Therapiesitzungen könnten online angeboten werden.

Thesenpapier und Umsetzungsperspektive
Auf Basis der Diskussion während des Fachgesprächs wird ein Thesenpapier erstellt, in dem oben genannte Versorgungslücken und Problemfelder strukturiert und konkrete Lösungsansätze Politiker/innen und Entscheidungsträger/innen vorgestellt werden. Als Folge könnten in einem Nationalen Aktionsplan ADHS konkrete Maßnahmen benannt und die Umsetzung konzertiert angegangen werden.

Insgesamt waren sich die Teilnehmenden einig: Es muss etwas getan werden und das geht nur, wenn Expert/innen und Patient/innen das Thema gemeinsam mit der Politik, niedergelassenen Ärzt/innen, Psychotherapeut/innen und Krankenassen angehen.

 

[1] Symptomatik, Risiken und Versorgung. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 63, 910-915.