Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen sind längst in der Neurologie angekommen und verbessern maßgeblich die Versorgung, Therapie und den Alltag neurologisch erkrankter Menschen. Auf der Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) stellte DGN-Präsident Prof. Dr. Lars Timmermann konkrete Beispiele aus dem Bereich der Parkinson-Erkrankung vor. KI-Algorithmen können schon heute das Therapieansprechen auf die Tiefe Hirnstimulation (THS) vorhersagen, die implantierten Elektroden in Echtzeit optimal einstellen oder bei Parkinson-Betroffenen frühzeitig ein erhöhtes Demenzrisiko erkennen.
Bei M. Parkinson ist die Tiefe Hirnstimulation (THS) eine wichtige Therapieoption, die die Symptomatik maßgeblich verbessern kann. Das Ansprechen auf die Therapie ist im Einzelfall allerdings unterschiedlich. Da es sich um eine invasive Behandlung handelt, bei der die Schädeldecke geöffnet werden muss, ist es wünschenswert, im Vorfeld sicher einschätzen zu können, ob die Betroffenen von der THS profitieren werden.
Um das Therapieansprechen, insbesondere das der nichtmotorischen Symptome, präoperativ vorherzusagen, hat eine prospektive Studie bei 37 Parkinson-Kranken mit Hilfe spezieller Neurobildgebung (Diffusions-MRT) und anhand der Analyse von Mikrostrukturen bestimmter Gehirnregionen bzw. mikrostruktureller Eigenschaften prädiktive Marker ermittelt. Mit der KI-basierten Analyse jedes einzelnen MRT-Bildpunkts des Gehirns wurde der Zusammenhang zwischen mikrostrukturellen Parametern und den THS-Ergebnissen analysiert.
Im Ergebnis wurden geeignete Parameter in der Großhirnrinde (Cortex) identifiziert, die mit besonders guten postoperativen Ergebnissen verbunden waren. Dazu zählte zum Beispiel der Neuritenorientierungs-Dispersionsindex (ODI), welcher die Orientierung der Nervenzellfortsätze (Neuriten) charakterisiert. Eine intakte Mikrostruktur, d. h. höhere ODI-Werte, gingen mit besonders gutem Ansprechen auf die THS im Hinblick auf Schlaf, Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder Miktion einher.
„Das Projekt ist ein echtes Flagship-Projekt, das zeigt, wie das Therapieansprechen mittels KI vorhergesagt und damit die präoperative Patientenberatung unterstützt werden kann“, erläutert Prof. Timmermann.
Eine große Herausforderung bei der THS ist außerdem die individuell optimale Einstellung der implantierten Elektroden. Diese ist mitunter komplex und langwierig, kann aber neuerdings durch KI-Anwendungen maßgeblich erleichtert werden. KI-Algorithmen können helfen, Daten, die mittels „Wearables“ wie Handys oder Smartwatches gesammelt werden, auszuwerten und für die THS-Einstellung zu nutzen. Eine Machbarkeitsstudie untersuchte den Zusammenhang zwischen den THS-Elektrodeneinstellungen und Bewegungsmerkmalen bei 32 Parkinson-Erkrankten. Dafür wurden die Bewegungen der Teilnehmenden durch ein handelsübliches Armband mit Trägheitsmesseinheit (IMU) bei vier einfachen Handbewegungsaufgaben gemessen. Es zeigte sich, dass mit Hilfe solcher Bewegungsaufzeichnungen die optimalen THS-Einstellungen vorausberechnet werden können.
„Solche Wearables erlauben nicht nur eine optimale THS-Einstellung, sondern können perspektivisch auch eine in Echtzeit angepasste Stimulation ermöglichen. Derzeit werden ‚closed loop‘-Systeme entwickelt, welche die Stimulationsfrequenz und -dosis automatisch an die aktuelle Bewegungsfähigkeit anpassen können“, so Prof. Timmermann.
Ein drittes KI-Projekt, das der Experte auf der Pressekonferenz zum DGKN-Kongress vorstellte, analysierte Augenbewegungen (Eye-Tracking von „Sakkaden“ und „Antisakkaden“), um Parkinson-Kranke zu identifizieren, die ein erhöhtes Risiko für kognitiven Abbau haben. Sakkaden sind physiologische horizontale und vertikale schnelle Augenbewegungen beim Umherblicken bzw. im Rahmen von Fixiervorgängen. Um Antisakkaden zu erzeugen, werden die Teilnehmenden gebeten, bei Aufleuchten eines Signals willentlich in die entgegengesetzte Richtung zu blicken. Bei Menschen mit motorischen sowie kognitiven Beeinträchtigungen (z.B. bei beginnender Demenz, aber auch bei kleineren Kindern) ist diese okulomotorische Kontrolle vermindert. In der Studie wurden Eye-Tracking-Daten von 61 Parkinson-Kranken und Kontrollpersonen gesammelt und in Beziehung zu neuropsychologischen Testergebnissen gesetzt. Mittels statistischer Clusteranalyse der Eye-Tracking-Daten konnten unterschiedliche Sakkaden-Muster und deren Zusammenhang mit kognitiven Profilen bei M. Parkinson identifiziert werden.
Dabei zeigten sich (unabhängig von den Parkinson-bedingten motorischen Abweichungen) zusätzliche Cluster von auffälligen Sakkaden, die mit kognitiven Störungen assoziiert waren.
„Der KI-basierte Sakkaden-Test lässt sich Tablet-basiert im Wartezimmer anwenden, wodurch schon vor der ärztlichen Untersuchung objektive Informationen der neuronalen Bewegungskontrolle und Hinweise auf kognitive Beeinträchtigungen erfasst werden“, so Timmermann. „Verlaufsuntersuchungen können dann Personen mit Parkinson identifizieren, die ein besonderes Risiko für einen kognitiven Rückgang aufweisen und diese frühzeitig einer Therapie zuführen.“
Die Beispiele zeigen: KI und maschinelles Lernen haben den neurologischen Alltag bereits erreicht, und zwar auch bei anderen Indikationen als der Parkinson-Krankheit. Zahlreiche Evaluationsstudien laufen, aber schon jetzt ist klar: Mit der sekundenschnellen Analyse von zigtausend Datensätzen bieten KI-Anwendungen Verbesserungen im klinischen Alltag, die den Betroffenen zugutekommen. Einen besonderen Schwerpunkt von KI-Anwendungen in der Medizin sieht Prof. Timmermann in der Prädiktion von Ereignissen und der Stratifizierung für bestimmte Therapiewege. Der Experte ist sich sicher:
„Diese Anwendungen erleichtern nicht nur das Leben der Betroffenen mit einer Krankheit, sondern sie werden perspektivisch auch die Prognose vieler Erkrankungen verbessern.“