Behinderte Menschen sind dem Ukraine-Krieg hilflos ausgeliefert

Handicap International (HI) hat seinen Bericht „War in Ukraine: A focus on people with disabilities and provision of emergency health services“ veröffentlicht, der auf den Beobachtungen seiner Teams vor Ort und der Überprüfung von verschiedenen fassbaren Informationen beruht. 25% der vertriebenen Familien in der Ukraine haben mindestens ein Familienmitglied mit einer Behinderung (Internationale Organisation für Migration). In Krisen- und Notsituationen sind Menschen mit Behinderungen stärker als andere Gewalt und Misshandlungen ausgeliefert. Sie haben auch größere Schwierigkeiten, Zugang zu humanitärer Hilfe und den von ihnen benötigten spezifischen Dienstleistungen zu erhalten. Die Krise in der Ukraine ist da keine Ausnahme.

„Im März dieses Jahres haben wir in Tscherniwzi rund 20 Einrichtungen für Binnenvertriebene mit besonderen Bedürfnissen in Bezug auf psychische Gesundheit, Rehabilitation, oder anderen Grundbedürfnissen identifiziert, so auch ein Waisenhaus für mehrfach behinderte Kinder. In nur einem Tag ist die Aufnahme im Waisenhaus von zehn Kindern auf über fünfzig hochgeschnellt. Nach einer 24-stündigen Busfahrt kamen diese Kinder in einer unbekannten Stadt an, weit weg von ihren Familien, und hatten keine medizinischen Unterlagen bei sich. Das Waisenhaus hatte weder zusätzliches Personal noch finanzielle Unterstützung erhalten. Diese Geschichte vermittelt einen Eindruck davon, wie Menschen mit Behinderungen in solch dramatischen Situationen ignoriert werden können“, sagt Fanny Mraz, Leiterin der HI-Nothilfe.

Einige Zahlen

  • 2018 gab es in der Ukraine mindestens 2,7 Millionen Menschen mit Behinderungen, darunter fast 164.000 Kinder ( Zahlen von 2018). Schätzungen zufolge könnte die tatsächliche Zahl 6,6 Millionen betragen (Devex, Sam Mednic, People with disabilities left behind during the war in Ukraine, July 2022).
  • Viele Menschen mit Behinderungen, ihre Familien und Betreuungspersonen wurden zwangsumgesiedelt und leben in Sammelunterkünften, Pflegefamilien, usw. Es gibt keine genauen Daten über die Anzahl oder den Aufenthaltsort von Menschen mit Behinderungen, die vertrieben wurden, die Internationale Organisation für Migration berichtete jedoch vor kurzem, dass 25% der innerhalb des Landes vertriebenen Familien mindestens ein Familienmitglied mit Behinderung hat. Zurzeit sind 7 Millionen Menschen innerhalb der Ukraine vertrieben.
  • Im März 2022 untersuchten HI-Teams die Situation in der Stadt Uzghorod und stellten fest, dass 3’246 Personen in 30 Sammelunterkünften untergebracht waren. Nur ein Drittel dieser Zentren gab an, Menschen mit Behinderungen aufzunehmen, ohne genaue Zahlen über deren Anzahl und die Art der Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert waren, zu nennen.

Unsicherheit von Menschen mit Behinderungen

  • In diesem Konflikt sind Menschen mit Behinderungen in ihrer Sicherheit ernsthaft gefährdet: Sie sind dem Risiko ausgesetzt, zurückgelassen zu werden (fehlende Hilfe bei der Evakuierung, kein Zugang zu Informationen, ungeeignete Transportmittel), Gewalt zu erfahren, verletzt und getötet zu werden.
  • Die meisten Schutzräume, um sich vor Bombenangriffen in Sicherheit zu bringen, sind für Menschen im Rollstuhl oder mit eingeschränkter Mobilität nicht zugänglich.
  • Viele Menschen mit Behinderungen haben keinen Zugang zu humanitärer Hilfe. Auf der Grundlage einer im März 2022 in der Ostukraine durchgeführten Umfrage berichtete HelpAge, dass 91% der befragten älteren Menschen Hilfe bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln benötigten, weil sie Mobilitätsprobleme hatten und viele von ihnen allein lebten. 75% benötigten Hygieneartikel.

Zunahme der Zahl von Menschen mit Behinderungen

  • Aufgrund seiner Erfahrungen im Irak, in Syrien, im Jemen usw. erwartet HI, dass die Zahl der Menschen mit Behinderungen zunehmen wird. Die massiven und systematischen Bombenangriffe in der Ukraine führen zu komplexen Verletzungen, die Amputationen oder dauerhafte Behinderungen zur Folge haben können und langfristige Rehabilitationsdienste erfordern.
  • Der Konflikt wird zu einem dramatischen Anstieg der Zahl der Menschen mit Amputationen führen. Viele von ihnen wurden in Notoperationen noch an der Frontlinie transfemoral (über dem Knie) amputiert.
  • Die Krankenhäuser sind überlastet, müssen die Patienten früher entlassen und es mangelt an Rehabilitationseinrichtungen.

Unterkapazitäten für Kinder mit Behinderungen

  • Vor dem Krieg waren etwa 100.000 Kinder in Heimen untergebracht – die Hälfte davon waren behindert. Die Einrichtungen mussten ihre Kapazitäten verdoppeln oder verdreifachen, da ein Großteil der Bevölkerung vor der Gewalt geflohen ist.
  • Die Kinder sind bereits von ihren Familien getrennt und laufen Gefahr, unter katastrophalen Bedingungen in überfüllten Einrichtungen mit begrenzten Kapazitäten und Ressourcen zu leben. Es besteht auch das Risiko, dass sie verlassen werden, da viele Pflegekräfte selbst mit ihren Familien evakuiert wurden.